43

Olivers Besuch hatte Lisas fragiles Gleichgewicht erschüttert.

Bei der Arbeit war sie unaufmerksam, und die Anzahl ihrer bissigen Bemerkungen ging drastisch zurück. Schlimmer wurde alles noch dadurch, dass er sie nicht anrief. Sie hatte gehofft, er würde es tun, wenn auch nur, um eine witzige Mitteilung zu überbringen, wie: »Danke für den Fick.« Besonders, da er jetzt ihre Nummer hatte. Aber die Tage vergingen und die Hoffnung schwand.

Am fünften Tag war ihre Sehnsucht so groß, dass sie ihn anrief, doch sie wurde sofort mit dem Anrufbeantworter verbunden. Er war unterwegs, nahm sie an, er hatte seinen Spaß und lebte so, wie sie früher gelebt hatte. Mit einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit legte sie auf; sie war zu aufgewühlt, um eine Nachricht zu hinterlassen.

Sie hätte wissen sollen, dass er nicht anrufen würde. Es war vorbei, das wussten sie beide, und wenn er einmal eine Entscheidung traf, blieb er dabei.

Sie war niedergeschlagen und unkonzentriert und konnte nicht aufhören, über die Fragen nachzudenken, mit denen sie sich vor sechs Monaten, vor neun Monaten, ja, vor einem Jahr hätte beschäftigen sollen. Was war mit ihrer Ehe geschehen? Was war alles schiefgegangen?

Wie so viele Beziehungen war auch ihre an der Kinderfrage zerschellt. Aber bei ihnen war es eine besondere Variante: Er wollte Kinder, sie nicht.

Sie hatte geglaubt, dass sie Kinder wollte. Es gab eine Phase, da war absolut jede, die irgendwie zählte, schwanger: verschiedene Spice Girls, jede Menge Models, mehrere Schauspielerinnen. Ein runder Bauch war ebenso eine Aussage des Stils wie ein Pashmina-Schal oder eine Gucci-Handtasche: Schwangerschaft war in. Sie hatte es sogar auf einer Liste stehen: Schwangerschaft ist in, Edelsteine sind out.

Kurz darauf war es in, mit einem kleinen süßen Baby in einem schwarzen Jogging-Buggy gesehen zu werden - ohne ihn ging man nicht auf die Straße. Lisa, deren Argusauge auch noch das winzigste Auf und Ab der Trends registrierte, bemerkte auch diese Entwicklung.

»Ich will ein Kind«, sagte sie zu Oliver.

Oliver war nicht so scharf darauf. Er mochte ihr schickes, schnelles Leben und wusste, dass ein Kind wie eine Bremse wirken würde. Keine Partys mehr bis zum Morgengrauen, keine weißen Sofas mehr, keine spontanen Last-minute-Trips nach Mailand. Oder nach Las Vegas. Selbst nach Brighton nicht. Schlaflose Nächte gäbe es dann nicht mehr dank einer Dosis außerordentlich reinen Kokains, sondern dank eines schreienden Kindes. Das ganze verfügbare Einkommen könnte nicht mehr für Jeans von Dolce & Gabbana verpulvert werden, sondern würde für Berge von Zellstoffwindeln draufgehen.

Doch Lisa machte sich an die Arbeit und überzeugte ihn nach und nach. Sie appellierte an seinen Macho-Stolz: »Willst du nicht, dass deine Gene weitergetragen werden?«

»Nein.«

Und dann, eines Tages, als er neben ihr im Bett lag, sagte er: »Okay.«

»Was ist okay?«

»Okay, wir machen ein Kind.« Bevor Lisa ihrer Freude Ausdruck verleihen konnte, hatte er die Blisterpackung mit der Pille von dem Bord hinter dem Bett genommen und sie mit großem Zeremoniell in der Toilette runtergespült.

»Kein Sicherheitsnetz, Babes.«

In ihrer Fantasie trug Lisa bereits ein süßes schokoladenfarbenes Baby auf ihren schlanken Hüften. »Ein Baby ist keine Puppe«, erläuterte Fifi. »Es ist ein menschliches Wesen und bedeutet viel Arbeit.«

»Das weiß ich«, hatte Lisa grob erwidert, aber eigentlich wusste sie es nicht.

Dann wurde jemand in der Redaktion schwanger. Arabella, eine scharfzüngige, etwas gefährliche Frau, zackig wie eine Peitsche und immer tadellos gekleidet. Von einem Tag zum nächsten war ihr ständig hundeelend. Einmal übergab sie sich sogar in den Papierkorb. Wenn sie nicht gerade auf der Toilette war oder sich übergeben musste, saß sie über ihren Schreibtisch gebeugt, knabberte an einem Stück Ingwerwurzel und war zu erschöpft, um zu arbeiten.

Und das Essen! Trotz ihrer ständigen Übelkeit vertilgte sie Berge von Essen. »Das einzige, was mir die Übelkeit nimmt, ist Essen«, murmelte sie und schob sich noch eine Fleischpastete in den Schlund. In kürzester Zeit sah sie aus, als wäre sie bis zum Kopf in Sand eingebuddelt. Es wurde noch schlimmer. Ihr einst glänzendes Haar wurde plötzlich aus unerklärlichen Gründen kraus, und am Mund bildete sich ein Herpes. Im Gesicht hatte sie eine Schuppenflechte, und ihre Nägel fingen an abzubrechen. In Lisas überkritischen Augen ähnelte sie eher einem Pestopfer als einer Schwangeren.

Besonders verstörend war die Tatsache, dass Arabellas Konzentration nachließ. Mitten in einem Interview vergaß sie Nicole Kidmans Namen und konnte sich nur noch an deren Spitznamen erinnern: Nicole Skidmark. Sie vergaß, ob ihr John-Rocha-Wickelrock aus Velcro aus dieser Saison oder aus der letzten stammte. Und diese Dinge waren von elementarer Wichtigkeit, stellte Lisa alarmiert fest. Es kam der Tag, da Arabellas Fähigkeit, sich zwischen einem White Magnum und einem Classic Magnum zu entscheiden, sie gänzlich verließ. »Wei... nein, Class... nein, nein, warte. Weiß. Eindeutig Weiß. Nein, Classic...« Auf diese Weise hätte sie England verloren.

»Mein Gehirn ist zu Gelee geworden«, klagte sie.

Voller Entsetzen ging Lisa zu einer anderen Frau, die ihr Kind schon bekommen hatte. EloYse war Redakteurin in dem Unterhaltungsressort von Chic Girl.

»Wie geht es dir?«, fragte Lisa.

»Ich bin ein Wrack, akuter Schlafmangel«, sagte EloYse.

Und schlimmer noch, obwohl es schon sechs Monate her war, dass EloYse ihr Baby bekommen hatte, sah sie immer noch aus, als wäre sie bis zum Hals in einem Sandhaufen eingebuddelt.

Und da war noch etwas. Sie interessierte sich nicht mehr für die Dinge, sie hatte ihren Biss verloren. Sie war die Redakteurin, die ehemals als Attila bekannt war. Aber jetzt kam sie einem eher vor wie ein scheues Reh.

Von einem Moment zum nächsten verwarf Lisa die Idee. Sie wollte kein Kind haben, Kinder zerstörten das Leben. Für Models und Spice Girls mochte es angehen. Die hatten Heerscharen von Kinderfrauen, die darauf achteten, dass man genug Schlaf bekam, einen persönlichen Trainer, der darauf bestand, dass man wieder schlank wurde, und einen Privatfriseur, der einem die Haare kämmte, wenn man selbst keine Energie dazu hatte.

Aber inzwischen war Oliver sehr angetan von der Idee. Und es war eine von Olivers Eigenschaften, dass er eine einmal getroffene Entscheidung höchst selten umstieß.

Heimlich fing sie wieder an, die Pille zu nehmen. Auf keinen Fall würde sie ihre kostbare Karriere zerstören.

O ja, Lisas Karriere.

Oliver hatte auch dagegen Einwände gehabt, stimmt‘s?

»Du bist ein Workaholic«, beschuldigte er sie ein ums andere Mal, während Frustration und Zorn in ihm wuchsen.

»Das sagen Männer immer über erfolgreiche Frauen.«

»Nein, ich meine nicht, dass du zu viel arbeitest, obwohl du das tust. Babes, du bist obsessiv. Du sprichst nur von der Redaktion, von den Auflagenzahlen, von der Konkurrenz. ›Wenigstens haben wir die besseren Anzeigenkunden.‹ ›Den Artikel haben wir schon vor sechs Monaten gebrachte ›Ally Benn hat es auf mich abgesehene«

»Das stimmt ja auch.«

»Nein, es stimmt nicht.«

Wütend, weil er sie nicht verstand, funkelte Lisa Oliver an. »Du hast keine Ahnung, wie es ist. Sie wollen alle meine Position, die ganzen Zwanzigjährigen. Sie würden mich packen und mir ein Messer in den Rücken stoßen, wenn sich ihnen die Möglichkeit bieten würde.«

»Nur weil du so denkst, heißt das nicht, dass alle anderen auch so denken. Du bist paranoid.«

»Das stimmt nicht. Ich sage nur, wie es ist. Sie sind nur sich selbst gegenüber loyal.«

»Wie du auch, Babes. Du bist zu hart geworden, du hast zu viele Menschen an die Luft gesetzt. Du hättest Kelly nicht rauschmeißen dürfen - sie ist süß und war auf deiner Seite.«

Für den Bruchteil einer Sekunde war sie beschämt. »Sie konnte nicht mithalten, sie hatte nicht den richtigen Biss. Ich brauche eine Unterhaltungsredakteurin, die nicht davor zurückschreckt, die Axt zu schwingen. Nette Menschen wie Kelly behindern eine Zeitschrift.«

Sie pflanzte sich vor Oliver auf. »Es hat mir keinen Spaß gemacht, sie zu feuern, wenn du das denkst. Ich fand sie nett, aber ich hatte keine Wahl.«

»Lisa, ich finde, du bist top. Das habe ich immer getan. Ich...« Er brach ab und suchte nach den richtigen Wörtern. »... Ich bewundere dich, ich respektiere dich ...«

»Aber?«, unterbrach Lisa ihn mit scharfem Ton.

»Aber es gibt mehr im Leben, als die Beste sein zu wollen.«

Ein spöttisches Lachen. »Das finde ich nicht.«

»Aber du bist die Beste. Du bist so jung und so erfolgreich, warum reicht dir das nicht?«

»Das ist das Problem mit dem Erfolg«, murmelte Lisa, »man muss sich ständig selbst übertreffen.«

Wie sollte sie erklären, dass sie immer mehr wollte, je mehr sie hatte? Nach jedem Erfolg fühlte sie sich leer, deswegen jagte sie dem nächsten hinterher, in der Hoffnung, vielleicht diesmal ans Ziel zu kommen. Befriedigung war flüchtig und vergänglich, und der Erfolg bewirkte nur, dass sie nach immer mehr gierte.

»Warum ist das alles so wichtig?«, hatte Oliver verzweifelt gefragt. »Es ist doch nur ein Job.«

Lisa zuckte zusammen. Oh, da irrte er sich sehr. »Es ist mehr. Es ist... alles.«

»Du wirst anders darüber denken, wenn du schwanger bist.«

Augenblicklich brach ihr bei dem entsetzlichen Gedanken der Schweiß aus. Sie würde nicht schwanger werden, sie musste es ihm sagen. Aber sie hatte es versucht, und er hatte sie ins Leere laufen lassen.

»Lass uns am Wochenende wegfahren, Babes«, hatte Oliver vorgeschlagen, doch der fröhliche Ton entsprach nicht seiner Stimmung. »Nur du und ich, wir lassen die Seele baumeln, wie früher.«

»Am Samstag muss ich für ein paar Stunden in die Redaktion. Das Layout muss geprüft werden, bevor es in den Druck geht...«

»Das kann doch Ally machen.«

»Auf gar keinen Fall! Sie würde es vermasseln, nur um mich reinzulegen.«

»Da hast du es«, sagte er bitter. »Du bist wie besessen, und ich sehe dich nie, außer bei Redaktionspartys.« Dann fugte er hinzu: »Und es macht auch keinen Spaß mehr mit dir.«

Es gab eine stetige Reihe von bitteren Ernüchterungen und Enttäuschungen, eine nicht abreißende Litanei von Anschuldigungen und Vorwürfen, eine zunehmende Entfremdung und Isolierung voneinander. Zwei Menschen, die zu einem verschmolzen waren, wurden wieder zwei scharf konturierte Einzelwesen.

Irgendetwas würde reißen, und so war es auch.

Am Neujahrstag fand Oliver eine Packung Pillen in Lisas Handtasche. Nach einem heftigen und ausgedehnten Wortwechsel verfielen sie in Schweigen. Oliver packte seine Taschen (und eine von Lisas) und ging.

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